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Der Überfall Russlands auf die Ukraine setzte im März 2022 eine gewaltige Flüchtlingswelle in Bewegung. Viele Menschen, auch in unserer Region, zeigten direkt große Hilfsbereitschaft. Für ein besonders nachhaltiges Projekt zeichnet sich illerSENIO verantwortlich. Seit anderthalb Jahren ist dieses für viele ukrainische Familien gleichbedeutend mit Sicherheit, Perspektive und Wertschätzung.
Beitrag in ukrainischer Sprache
Dieser Beitrag erschien unter anderem in der Südwestpresse, in der Neu-Ulmer und in der Illertisser Zeitung. In ukrainischer Sprache ist er zudem hier abrufbar.
18 Monate ist es mittlerweile her als die Welt zu begreifen begann: Es herrscht Krieg im Herzen Europas. Mehr als acht Millionen Menschen sind seither aus der Ukraine geflohen. Die Ersten fanden in provisorischen Ankunftzentren Zuflucht, mit etwas Glück in den Privatwohnungen hilfsbereiter Menschen. Wochen bevor die öffentliche Hand notwendige Hilfsangebote bereitstellen konnte, war es dem enormen Engagement der Zivilgesellschaft zu verdanken, dass die Geflüchteten schnelle Hilfe erhielten. Und Monate bevor andere Organisationen dem Beispiel folgten, stellte im März 2022 illerSENIO ein über unsere Region hinaus viel beachtetes Hilfsprojekt auf die Beine: Binnen Tagen wurden, komplett in Eigenleistung, 14 ehemalige Schwestern-Wohnungen in bezugsfertige Apartments verwandelt. Ein Kraftakt, der nicht nur viel Herzblut, sondern eine große Zahl helfender Hände erforderte: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von illerSENIO halfen auf eigenen Wunsch nach Dienstende bis in die Abendstunden, einige brachten freiwillige Helfer aus dem Familien- und Freundeskreis mit, um Fußböden zu verlegen, um Wände zu tapezieren und um Möbel oder Küchen aufzubauen. Um für die Geflüchteten ein begleitetes Ankommen sicherzustellen, ihnen in ukrainischer Sprache mit deutschen Formalitäten zu helfen und ihnen zugleich die deutsche Sprache beizubringen setzte illerSENIO zusätzlich auf drei eigens engagierte „Paten“. In Teilzeit, doch zeitweise rund um die Uhr kümmerten sie sich um die Familien in all ihren so unterschiedlichen Konstellationen, begleiteten bei Behördengängen und später auch im Rahmen der Praxisanleitung in der Pflege.
Pflegekräfte im Fokus, Arbeitskräfte willkommen
So außergewöhnlich wie das gemeinschaftliche Engagement selbst ist die langfristige Ausrichtung, die das Hilfsprojekt erlangen sollte. Den Verantwortlichen ging es nicht darum eine weitere Übergangslösung zu schaffen. Die Menschen aus der Ukraine sollten angesichts ihrer so ungewissen Zukunft stattdessen eine tatsächliche und längerfristige Perspektive finden. Die zentrale Idee des Hilfsprojektes ist es, eine schlüssige Verbindung zu schaffen: aus familiengerechtem Wohnraum, gut bzw. nach deutschem Tarif bezahlter Arbeit, Kinderbetreuung und umfassenden Unterstützungsleistungen für ein unkompliziertes Eingewöhnen im Alltag. Ein Angebot also, das insbesondere viele ukrainische Frauen mit beruflichem Hintergrund in der Pflege angesprochen hat. Noch im April 2022 bezogen 14 geflüchtete Ukrainerinnen mitsamt ihren Kindern, Nichten und Neffen, Omas und Tanten die sanierten Apartments in der Pestalozzistraße. Die meisten von ihnen wurden auf das Illertisser Angebot gleich bei der Ankunft in Deutschland aufmerksam. Denn sowohl in Berlin als auch in München ließ illerSENIO beispielsweise an wichtigen Bahnhöfen und Ankunftzentren Infoblätter in ukrainischer Sprache verteilen. Das Versprechen darauf: „Wir lassen Dich nicht allein!“
Aus Dnipro nach Nordholz
Anderen wiederum kam der reine Zufall zugute. So geschehen bei Olha Terskova und ihrer Schwiegertochter Valentina, zusammen mit Valentinas Kindern Katerina (9) und Serafina (6) sowie deren Cousin und Cousine, Maksym (17) und Juliana (7). Noch ohne von illerSENIO zu wissen, flüchteten sie aus der ukrainischen Metropole Dnipro über Warschau und Berlin zunächst ins 100-Seelen-Dörfchen Nordholz bei Buch. Ein Ort, den Olha bereits aus zurückliegenden Arbeitsaufenthalten als häusliche Pflegekraft kennengelernt hatte. Ihre Gastgeberfamilie wiederum lernte Olha seinerzeit nicht nur als fleißige Arbeitskraft, sondern auch als besonders liebenswerten Menschen kennen. Als zwei Wochen nach Kriegsbeginn auch die Region um Dnipro russischen Angriffen ausgesetzt war, ergriff Familie Terskov das Angebot, sich via Nordholz in Sicherheit zu bringen. Dass die anschließend organisierte Bleibe in Illertissen ausgerechnet in Sichtweite zum Caritas-Centrum lag, ließ den Dingen anschließend ihren Lauf: Wie Olha, war auch Valentina als ausgebildete Krankenschwester auf Anhieb davon überzeugt, dass das Konzept von illerSENIO ihnen jene Sicherheit, Perspektive und Wertschätzung entgegenbringt, die sie in ihrer Lage so dringend brauchten.
Leben zwischen Krieg und Normalität
Seit dem Einzug der Terskovs in der Pestalozzistraße sind inzwischen 16 Monate vergangen. Eine Zeit, die einerseits von schönen Erfolgserlebnissen, andererseits aber auch von der täglichen Sorge geprägt war, wie es währenddessen den Männern der Familie und den Vätern ihrer Kinder und Enkel in der Heimat ergeht. Auch nach ihrer Flucht blieben somit tragische Schicksalsschläge nicht aus. Dass Olha nicht an der Seite ihres Mannes sein konnte, als er im letzten September nach schwerer Krankheit verstarb, lässt die 59-jährige bis heute nicht los. Doch die tägliche Arbeit und der geregelte Tagesablauf für sie, ihre Schwiegertochter und für die Enkel helfen dabei, auf andere Gedanken zu kommen, sagt sie. Seit Juni letzten Jahres gehört Olha Terskova nun zum Team der Illertisser Sozialstation. Bei den Kolleginnen und Kollegen ist sie nicht nur wegen ihrer exzellenten Backkünste, sondern vor allem wegen ihrer verbindlichen, unkomplizierten Art beliebt. Auch wenn es zu Beginn aufgrund der Sprachbarriere nicht einfach war – inzwischen ist sie geübt und souverän darin, ihre Kunden von Dietenheim bis Tiefenbach in der ambulanten Pflege zu Hause quasi im Alleingang zu versorgen. Als sie an ihre Anfänge zurückdenkt, muss sie plötzlich laut lachen und erzählt von diesem einen Unglückstag als sie durch eine falsche Abfahrt bei ihrer Tour versehentlich im Ulmer Stadtverkehr strandete. Die Kolleginnen der Sozialstation lotsten sie damals schnell wieder zurück auf bekanntes Terrain.
Erfolgreiche Eingewöhnung durch Job-Mentoring
Während es für alle Neuangekommenen zunächst ausschließlich darum gehen sollte, sich vor Ort zu orientieren und einzugewöhnen, kam bei vielen recht schnell der Wunsch nach einer Beschäftigung auf. An unterschiedlichen Möglichkeiten diesem Wunsch nachzukommen mangelte es in Illertissen nicht. So überließ man es bei illerSENIO den jeweils individuellen Vorstellungen um eine ideale Beschäftigung zu finden. Neben ukrainischen Krankenschwestern, die erwartungsgemäß in der Pflege tätig wurden, gab es manche die das Fach wechselten und sich stattdessen in Hauswirtschaft oder Küche versuchen wollten. Mehrere, die bislang in völlig anderen Berufen tätig waren, probierten sich mittlerweile erfolgreich in der Pflege und Betreuung aus. Die meisten blieben dort. Alle, die gerne arbeiten wollten, führte illerSENIO nach dem Training-on-the-job-Prinzip in die gewünschte Aufgabenstellung ein. Für bis zu drei Monate begleiteten die ukrainischen Trainees ihre Mentoren im Arbeitseinsatz, mit denen sie sich in ihrer Sprache verständigen konnten. Die im Caritas-Centrum angebotenen Deutschkurse waren während dieser Phase der Schlüssel zum Erfolg. Mehr als 100 Stunden Deutschunterricht wurden binnen eines Jahres von illerSENIO angeboten und von vielen fleißig genutzt. Was auch dazu geführt hat, dass Valentina Terskova ihre Schwiegermutter hinsichtlich ihrer Deutschkenntnisse zügig überholt hat. Bei der täglichen Arbeit – seit Dezember 2022 ist sie in der stationären Pflege im Caritas-Centrum als Pflegekraft tätig – kommt es ihr zugute. Den vielen kleinen Schritten die notwendige Zeit zu geben war und ist den Projektverantwortlichen besonders wichtig, wie auch illerSENIO-Geschäftsführer Dominik Rommel betont: „Wir können letztlich nur versuchen uns in die Lage unserer ukrainischen Familien hineinzuversetzen. Was uns ganz wichtig ist: Wir spielen immer mit offenen Karten und wir geben den Menschen die nötige Zeit um hier wirklich anzukommen. Jede Familie soll in Ruhe für sich selbst herausfinden können, ob und wie unser Angebot weiterhilft. Wenn ich überlege, wie viele Ukrainerinnen mittlerweile schon zu einem wichtigen Teil der illerSENIO-Familie geworden sind, wie die Frauen in den Teams eingebunden sind, sehen wir uns mit unserem Hilfsprojekt natürlich in ganz vielem bestätigt.“
Kostenloser Wohnraum für drei Monate
Auf die vermeintliche Gretchenfrage, ob illerSENIO angesichts der allgemeinen Personalnot in der Pflege nicht auch eigene Vorteile aus der Hilfsaktion ziehe, antwortet Rommel gelassen: „Definitiv! Unsere ukrainischen Zugänge sind für uns echte Verstärkungen, nicht nur in der Pflege. Auch zum Beispiel in der Betreuung und in der Hauswirtschaft. Was aus unserer Sicht aber das Entscheidende ist: Wir nutzen nicht etwa ihre Lage aus. Im Gegenteil: Wir bezahlen unsere ukrainischen Kräfte vollwertig bzw. nach dem besten Tarif in der Pflege. Auch sprechen wir hier ausschließlich von unbefristeten Arbeitsverträgen. Unabhängig davon: Unser personelles und materielles Engagement um all das überhaupt auf die Beine stellen zu können, ist immens.“ Die Kosten für die Sanierung der Apartments sowie für die Sprachkurse und Kinderbetreuung übernahm man seitens illerSENIO komplett. Finanzielle Unterstützung oder Zuschüsse gab es weder von Seiten des Caritasverbands, noch von behördlicher Seite. Während der Eingewöhnungsphase stellte illerSENIO zudem sämtliche Apartments mietfrei zur Verfügung und verpflegte zeitweise bis zu 35 Personen auf eigene Kosten mit Lebensmitteln und gekochten Menüs aus der hauseigenen Küche, teils auch mit Einkaufsgutscheinen. Einzige Bedingung: Die regelmäßige Teilnahme an den angebotenen Deutschkursen im Haus. Dass Olha und Valentina, seitdem sie nun regulär bzw. mit einem Stellenumfang von 75 Prozent bei illerSENIO arbeiten, für ihre Apartments eine kleine Miete bezahlen müssen, finden die beiden fair. Von der Hilfsbereitschaft, die Ihnen seit ihrer Ankunft in Deutschland von vielen Menschen entgegengebracht wurde, sind sie nach wie vor überwältigt. Und auch wenn sie seit Kriegsbeginn vor allem von einem Tag zum nächsten denken, steht für sie fest: Es gibt nichts mehr, was sie zurück in die Ukraine zieht. Die Zukunft ihrer Familie liegt in Deutschland. Verbunden mit der Hoffnung, dass nicht nur Valentinas Mann sowie auch Olhas zweiter Sohn mit seiner Frau und der kleinen Juliana nachkommen werden. Schweren Herzens musste Oma Olha die damals 6-jährige im vergangenen Jahr wieder zurück in die Ukraine bringen, das Heimweh nach Mama und Papa war noch größer als ihre Angst vor Bomben und Raketen.
Die Sehnsucht nach einem Neuanfang
Der Krieg reißt auseinander, was bedingungslos zusammengehört: Auch einige ukrainische Familien in Illertissen sehnen sich so sehr wie das Kriegsende ihre Rückkehr in die alte Heimat herbei. Andere sehen ihr Lebensglück nicht weiter in einem Land, das in Trümmern liegt und die Flucht auch als Chance auf einen echten Neuanfang. Julianas Bruder Maksym nutzte seine Schulzeit in Deutschland mit großem Eifer, um sich mit einer guten Ausbildung den Grundstein für seine berufliche Zukunft zu legen. Mittlerweile hat er sogar gute Chancen, bereits im Herbst bei Siemens eine Lehre als Elektriker beginnen zu können. Auch Katerina und Serafina Terskova haben nach ersten Anlaufschwierigkeiten nicht bloß schulisch den Anschluss gefunden, sondern mit einem neuen Freundeskreis in Illertissen auch zwischenmenschlich. Mama Valentina hat derweil sowohl an der deutschen Mentalität als auch an den hiesigen Spezialitäten Gefallen gefunden. Neben deutschem Bier, gibt sie zwinkernd zu, hat es ihr der Schwäbische Kartoffelsalat besonders angetan. Schnell wird ihr Blick wieder ernster, wenn sie an den bevorstehenden September denkt. Olha wird dann trotz aller Gefahren alleine für einige Tage in die Ukraine reisen. Zu seinem ersten Todestag, das hat sie sich fest vorgenommen, wird sie ans Grab ihres Mannes zurückkehren. Valentina und die Kinder dagegen werden hier in Illertissen bleiben und auf ihre Rückkehr warten. Die Hoffnung, dass der Krieg bald endet, lassen sich die Terkovs und auch die anderen ukrainischen Familien bei illerSENIO nicht nehmen. Dem Hilfsprojekt bleibt zu wünschen, dass das Beispiel der Terskovs Schule macht. Das Projekt soll unabhängig vom Geschehen in der Ukraine auch weiteren Familien diese Chance bieten.